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       © 1997
Oliver Baumann •
Ermenegildo Bidese

Remigius Geiser, Salzburg (Österreich/Austria)

Grundkurs in klassischem Zimbrisch: 
3. Lektion: Zeitwörter

 

 

Die zimbrischen Zeitwörter bilden die gleichen Zeiten wie die schriftdeutschen und ihre Beugung verläuft ganz ähnlich, aber es gibt doch einige markante Unterschiede.

 

A) Die Gegenwart in der Wirklichkeitsform

 

Die Grundform der Zeitwörter, die im Schriftdeutschen auf ·en endet (z.B. rasten), endet im Zimbrischen (wie im Althochdeutschen) auf ·an (rastan). Streicht man diese Endung von der Grundform ab, erhält man den sogenannten Stamm des Zeitwortes (rast·).

 

Die regelmäßigen Zeitwörter, die sich nach festen Regeln beugen lassen, kann man je nach dem Schlusslaut des Stammes in drei Gruppen einteilen:

 

I.

 

Diejenigen, welche auf ein ·d oder ·t enden, unterscheiden sich bei der Beugung vom Schriftdeutschen nur in der dritten Person Mehrzahl sowie in der ersten Person Mehrzahl, welche bei allen zimbrischen Zeitwörtern ausnahmslos immer mit der Grundform identisch ist. Siehe Zeitworttabelle, Gruppe I.

 

II.

 

Diejenigen, welche auf ein einzelnes n oder l oder r enden, unterscheiden sich vom Schriftdeutschen ebenfalls in diesen beiden Formen; siehe Zeitworttabelle, Gruppe IIa.

 

Endet hingegen die letzte oder einzige Silbe des Stammes auf ·èer, ·eer, ·iir, ·òor, ·oor, ·uur, ·öor, ·üur, ·òol oder ·òon, dann wird der jeweils zweite Buchstabe dieser langen Selbstlaute durch ein a ersetzt (außer in der ersten Person); siehe Zeitworttabelle, Gruppe IIb.

 

Endet schließlich der Stamm auf ein unbetontes ·an oder ·al, dann wird dessen a in ein unbetontes e umgewandelt (außer in der ersten Person); siehe Zeitworttabelle, Gruppe IIc.

 

III.

 

Alle übrigen regelmäßigen Zeitwörter unterscheiden sich in allen Beugungsformen vom Schriftdeutschen, ausgenommen die erste Person der Einzahl; siehe Zeitworttabelle, Gruppe IIIa.

 

IV. Unregelmäßige Zeitwörter

 

Wie die meisten europäischen Sprachen, kennt auch das Zimbrische eine Menge unregelmäßiger Zeitwörter, deren Beugung nicht nach festen Regeln abgeleitet werden kann. Man muß diese Formen entweder stur auswendiglernen, oder (was der weitaus angenehmere Weg ist) man entwickelt automatisch ein Sprachgefühl für diese Formen im Verlauf der fortgesetzten Beschäftigung mit dem Zimbrischen. Die wichtigsten dieser Zeitwörter sind in der Zeitworttabelle unter Abschnitt IVa aufgeführt.

 

Zu dieser Gruppe der unregelmäßigen Zeitwörter gehören auch die meisten Hilfszeitwörter, die eine Schlüsselrolle im Sprachsystem spielen; sie sind in der Zeitworttabelle unter Abschnitt IVb zu finden.

 

B) Die Gegenwart in der Möglichkeitsform

 

Die Möglichkeitsform der Gegenwart läßt sich fast immer nach festen Regeln herleiten. Sie wird gebildet wie die Wirklichkeitsform bei den regelmäßigen Zeitwörtern der Gruppe I, mit Ausnahme der dritten Person; siehe Zeitworttabelle, Abschnitt V.

 

Nur sehr wenige Zeitwörter bilden die Möglichkeitsform der Gegenwart unregelmäßig. Sie sind in der Zeitworttabelle unter Abschnitt VI aufgeführt.

 

In Hauptsätzen wird die Möglichkeitsform der Gegenwart vorwiegend in sakralen Texten verwendet, um einen Wunsch auszudrücken, mitunter eingeleitet durch az (dass):

 

 

Sai gahòoliget dar dain naamo.

sei geheiligt der dein Name

Geheiligt werde dein Name.

 

Az khèmme dar dain régno.

dass komme der dein regno

Dein Reich komme.

 

Sai gamàcht bia du bill.

sei gemacht wie du willst

Dein Wille geschehe.

 

Vorwiegend wird die Möglichkeitsform der Gegenwart jedoch in Nebensätzen verwendet, und zwar in folgenden Sinnzusammenhängen:

 

Wenn es sich um einen Wunsch, einen Befehl, eine Notwendigkeit oder eine Bedingung handelt:

 

Ich gadìnge, àzto khèmmest.

Ich hoffe, dass du kommst.

 

Z ist nöotikh, àzar partiire.

Es ist notwendig, dass er abreist.

 

Wenn es sich um eine Frage oder um eine unsichere Möglichkeit handelt:

 

Préertmar àzse raitan metten slòofen.

scheint mir daß sie gleiten mit-den Skiern

Mir scheint sie fahren Schi.

 

Nach einer Verneinung:

 

Diisar musèo is nèt bèart ànde khèmmest séganen.

dieser Museum ist nicht wert dass-du kommest sehen-ihn

Es lohnt sich nicht, dass du kommst, um dieses Museum anzuschauen.

 

Nach Zeitwörtern der Gemütsbewegung:

 

Ich pin alla fròa àzta hèmmest khèmme dar reego.

ich bin ganz froh dass-da jetzt komme der Regen

Ich bin sehr froh, dass jetzt der Regen kommt.

 

Im Unterschied zum Schriftdeutschen wird jedoch in der normalen indirekten Rede die Wirklichkeitsform verwendet:

 

De tàbernaren hat khöt, az dar smékhar-hungar khostet vüf ejùarn und naünzkh skéen.

die Tavernerin hat gesagt, daß der Schmecker-Hunger kostet fünf Euro und neunzig Centesimi

Die Wirtin sagte, der Scheiterhaufen koste fünf Euro und neunzig Cent.

 

C) Die 1. Vergangenheit in der Möglichkeitsform

 

Obwohl es im Zimbrischen in der 1. Vergangenheit auch die Wirklichkeitsform gibt, soll uns diese hier nicht weiter beschäftigen, da sie sehr selten verwendet wird und heute fast nur noch in der Dichtersprache vorkommt. Sie wird übrigens genauso gebildet wie die regelmäßige Möglichkeitsform der 1. Vergangenheit und lautet daher genauso wie diese.

 

Diese regelmäßige Möglichkeitsform der 1. Vergangenheit erhält man, indem man an den Wortstamm die Silbe ·at· und dann die Personalendung der regelmäßigen Möglichkeitsform der Gegenwart anhängt; siehe Zeitworttabelle, Abschnitt VII.

 

Es gibt jedoch einige zimbrische Zeitwörter, welche die Möglichkeitsform der 1. Vergangenheit immer auf unregelmäßige Weise bilden. Die wichtigsten davon, darunter auch die sehr bedeutsamen Hilfszeitwörter, sind in der Zeitworttabelle unter Abschnitt VIII aufgeführt.

 

Darüber hinaus gibt es nicht wenige Zeitwörter, welche neben der regelmäßigen Bildung der Möglichkeitsform der 1. Vergangenheit auch eine unregelmäßige besitzen. Diese letztere wollen wir hier nicht weiter verfolgen. Wundern Sie sich aber nicht, wenn Sie solchen Absonderlichkeiten begegnen wie ich miich statt ich màchate (ich würde machen) oder ar boraatatatet statt ar boraatatet (ihr würdet heiraten).

 

Die Möglichkeitsform der 1. Vergangenheit wird vor allem verwendet zum Ausdruck der Unwirklichkeit von Handlungen, die nur unter bestimmten, quasi unerfüllbaren Bedingungen stattfinden würden:

 

Ich stönne hia noch an bocha, an de zait ziigate au.

ich stünde hier noch eine Woche, wenn das Wetter zöge auf

Ich bliebe noch eine Woche hier, wenn sich das Wetter bessern würde.

 

D) Die übrigen Zeiten

 

Das Mittelwort der Vergangenheit wird gebildet, indem an die 2. Person Mehrzahl der Wirklichkeitsform Gegenwart (z.B. rastet) die Vorsilbe ga· vorne angefügt wird (garàstet gerastet). Diese Vorsilbe unterbleibt jedoch, wenn das Zeitwort bereits eine unbetonte Vorsilbe hat, z.B. dormüudet ermüdet. (Zeitwörter mit betonten Vorsilben, wie im Schriftdeutschen, sind im Zimbrischen recht selten.)

 

Es gibt allerdings auch etliche Zeitwörter, die das Mittelwort der Vergangenheit unregelmäßig bilden; hier die wichtigsten:
 

gèbangebengèt
géenangehenganget / gant
gèltanzahlengoltet
haban habengahàt
khèmman kommenkhènt
khödan sagenkhöt
lèmman nehmengalùmmet
lèsan lesengalòset
mögan könnengamöcht
sainan seingabéest
séghan sehengasècht
sètzan setzengasòtzet
stéenan stehengastànt / gastànnet
trinkhan trinkengatrùnkhet
tüunan tungatànt
vènnan findengavùnnet
vorliiran verlierenvorlóart

 

 

Mit dem Mittelwort der Vergangenheit und den Hilfszeitwörtern sainan (sein) und haban (haben) werden die Wirklichkeitsform und die Möglichkeitsform der 2. Vergangenheit und die Möglichkeitsform der dritten Vergangenheit ebenso wie im Schriftdeutschen gebildet:

 

Ich pin gant mettar korrjèarn.

ich bin gegangen mit der Corriera

Ich bin mit dem Überland-Linienbus gefahren.

 

Ich klóobe nèt, àzar scha sai gariivet.

ich glaube nicht, daß-er schon sei arriviert

Ich glaube er ist noch nicht angekommen.

 

Ànde böarst gastànnet hia, höttasto gasècht de faifare.

wenn-du wärst gestanden hier, hättest-du gesehen die Pfeifer

Wenn du hiergeblieben wärst, hättest du die Musikanten gesehen.

 

Die Wirklichkeitsform der 3. Vergangenheit wird im Schriftdeutschen mit der 1. Vergangenheit der Hilfszeitwörter "haben" oder "sein" gebildet. Da diese Wirklichkeitsform der 1. Vergangenheit im Zimbrischen heute unüblich ist, wird stattdessen die 2. Vergangenheit von haban oder sainan benutzt:

 

Àzse hat gahàt gazéart alle de sain bètze, hàtse nimarmèar gamöcht khóofan de biljètten zo khèeran èersinkh hòam.

da-sie hat gehabt (ver)zehrt alle die seinen Batzen, hat-sie nimmermehr (ver)mocht kaufen die Billetten zu kehren ärschlings heim

Weil sie all ihr Geld verbraucht hatte, konnte sie keine Fahrkarten mehr für die Rückfahrt kaufen.

 

Handlungen, die in der Zukunft liegen, kann man, wie auch im Schriftdeutschen, mit den Formen der Gegenwart ausdrücken, wenn die Zeitstufe anderweitig klar ist:

 

Ich richte in Aürn mòtor-baagen übarmòrgen.

ich richte den Euren Motor-Wagen übermorgen

Ich repariere Ihr Auto übermorgen.

 

Ansonsten kann man die 1. und 2. Zukunft auch mit einem Hilfszeitwort konstruieren. Man verwendet jedoch nicht "werden", sondern béllan wollen oder mizzan müssen oder haban zo müssen (wie e. to have to):

 

Ich han zo stéenan hia.

ich habe zu stehen hier

Ich werde hierbleiben müssen.

 

Bénne bill riivan ditzan treniinle, dénne d ünzar korrjèra bill scha sain partiart.

wenn will arrivieren dieses Bähnlein, dann die unsere Corriera will schon sein abgefahren

Wenn dieser Zug ankommen wird, wird unser Überland-Linienbus schon abgefahren sein.

 

E) Sonstige Zeitwortformen

 

Sehr beliebt und typisch zimbrisch ist die Umstandsbestimmung durch das Mittelwort der Gegenwart (welches ansonsten kaum verwendet wird).

 

Gebildet wird diese Form, indem man an den Wortstamm (z.B. rast·) die Nachsilbe ·anten anhängt: ràstanten rastend. Falls jedoch der Stamm auf ein unbetontes ·al endigt (z.B. zbaifal·), dann wird nur ·nten angehängt: zbaifalnten zweifelnd.

 

Diese Umstandsbestimmung wird ähnlich verwendet wie das italienische Gerundio oder die englische Mittelwortkonstruktion:

 

Dar trùnkhane is khènt inn in de tabèrna sìnganten hòach "O baip, o baip ..."

der Trunkene ist gekommen herein in die Taverne singend hoch "O Weib, o Weib ..."

Der Betrunkene kam ins Gasthaus und sang dabei laut "O Frau, o Frau ..."

 

Ich han zo stéenan in de hèrbige, hàbanten gasnàppet an órnez gavrüst.

ich habe zu stehen in die Herberge, habend geschnappt ein horrendes Gefröste

(I have to stay in the hotel, having caught a serious cold.)

Ich muß im Hotel bleiben, weil ich eine schwere Erkältung erwischt habe.

 

Während es im Schriftdeutschen für jedes Zeitwort nur ein einziges Mittelwort der Vergangenheit gibt, bildet das Zimbrische bei denjenigen Zeitwörtern, die den 4. Fall regieren, noch ein zweites. Das eine, nämlich das schwache, haben wir schon kennengelernt bei der Behandlung der 2. und 3. Vergangenheit. Das andere, das starke, wird als Eigenschaftswort verwendet. Es wird gebildet, indem man an den Wortstamm (bei den unregelmäßigen Mittelwörtern der Vergangenheit jedoch an deren Stamm) die Silbe ·an· und daran dann die Beugungsendung der Eigenschaftswörter anhängt. Falls jedoch der Wortstamm des Zeitwortes auf ein unbetontes ·ar oder ·al endigt, dann wird statt der Silbe ·an· nur ein einfaches ·n· verwendet. Die Vorsilben sind die gleichen wie bei den schwachen Mittelwörtern der Vergangenheit:

 

an gazeerana skatel spagnolétten

eine aufgezehrte Schachtel Zigaretten

 

z gamèghalne baip

das ge(ver)mählte Weib

die verheiratete Frau

 

Die Leideform der Zeitwörter wird im Schriftdeutschen mit dem Mittelwort der Vergangenheit und dem Hilfszeitwort "werden" gebildet. Das Zimbrische verwendet dazu jedoch das schwache Mittelwort der Vergangenheit und das Hilfszeitwort khèmman kommen (gelegentlich auch sainan sein, stéenan stehen oder bolaiban bleiben):

 

De khàmara khimmet prenotaart.

die Kammer kommt praenotiert

Das Zimmer wird reserviert.

 

Selbstverständlich bilden die zimbrischen Zeitwörter auch eine Befehlsform. In der 2. Person Mehrzahl wird diese genauso gebildet wie die Wirklichkeitsform: ar rastet ihr rastet; rastet! rastet! Die Befehlsform der 2. Person Einzahl erhält man hingegen, indem man von der Wirklichkeitsform (z.B. du rastest du rastest; du partìarst du fährst ab) die Personalendung -est bzw. -st abstreicht:
 

Rast! Raste! 
Partìar!Fahre ab! 
Pait!Warte! 
Sbint dehiin!Verschwinde! 

               

Wenn der Wortstamm auf ein ·g oder ·b endigt, dann wird daraus ein ·kh bzw. ·p:

 

Lukh! Schau! 
Sbaikh! Schweige! 
Bolaip!Bleib! 
Schraip! Schreib! 

               

Natürlich gibt es auch Zeitwörter, welche die Befehlsform unregelmäßig bilden:

 

Ail! / Ailt! Komm! / Kommt! 
Gasìn! / Gasìnt! Geh! / Geht! 
Git!  Gib! 
Sai! Sei! 





 


Zum Abschluss des Kapitels "Zeitwörter" noch ein nützlicher Kunstgriff. Falls Sie irgendein Zeitwort nicht auf zimbrisch wissen, dann machen Sie es doch wie die Zimbern selbst: Nehmen Sie einfach das entsprechende italienische Wort und "verzimbern" Sie es!

So werden die Endungen der italienischen Zeitwörter ins Zimbrische umgewandelt:

 

·àre >  ·aaran   prenotàre > prenotaaranreservieren
·ére >  ·éeranvalére > valéeranwert sein
·ere >  ·arancèdere > zédarannachgeben
·ìre >   ·iiranpartìre > partiiranabreisen
·ùrre > ·üurantradùrre > tradüuranübersetzen

           

Die Mittelwörter der Vergangenheit werden bei diesen "verzimberten" Zeitwörtern ohne die Vorsilbe ·ga gebildet:

 

Se ist partìart.

Sie ist abgereist.

 
 


=> Zeitworttabelle
 

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 30.01.18 / Update: 05.12.21
 

 

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